Hier beschriebene Neuerscheinungen sind eventuell schon ins Sortiment unseres Internet-Buchladens aufgenommen worden und können dann auch dort bestellt werden.
Wer Neuerscheinungen noch vor Einstellung in unseren Internetbuchladen bekommen möchte und wer warum auch immer lieber anders bestellen möchte, der kann uns seinen Wunsch über Telefon, ePost oder Brief mitteilen.
Tel.: 0 33 34 - 21 26 00
Fax: 0 33 34 - 21 20 59
ePost: psverlag@telta.de
Weitere Details nennt unsere Kontaktseite.
Wir arbeiten daran, Ihnen einen blitzschnellen Internet-Buchladen ohne potentiell gefährliche Scriptsprache zu erstellen. Um Sie nicht in Versuchung zu bringen, die Ausführung von aktiven Webseiten-Inhalten in Ihrem Browser zuzulassen, haben wir ja auch den Internetauftritt mit vertrauenswürdigerem und sauberem html-Code realisiert. Unser bisheriges System kommt ohne Javascript leider noch nicht aus. Als Notlösung für konsequente Ablehner aktiver Inhalte bieten wir ein einfaches zentrales Bestellformular an. Dort kann man zwar nicht wie in einem Shopsystem Einzel- und Endpreise, Transportkosten und Lieferfristen erfahren, aber wir erfahren wenigstens von Ihrem Interesse und können Ihnen ein verbindliches Angebot per ePost oder andere gewählte Antwortform zurücksenden.
Bünger, Susanne:
Tom Tolup oder wie mein Schutzengel fliegen lernte:
Geschichte. – 1. Aufl. – Eberswalde: PS VERLAG, 2005. – 60 S.
Dieses Buch wurde mit einem umweltfreundlichen Verfahren und auf chlorfreigebleichtem Papier gedruckt.
© 2005 PS VERLAG
Illustrationen: Norbert Bünger
Umschlaggestaltung: Norbert Bünger
Satz: Elena Spangenberg
Herstellung: PS VERLAG
www.psverlag.de
Dieser Text ist leider nicht aus der gedruckten Datei, sondern aus einer Vorstufe exportiert worden und könnte noch Fehler enthalten. Bei Gelegenheit tauschen wir diesen Text daher noch einmal gegen den Text mit Druckfreigabe aus. Wir bitten um etwas Geduld.
„Tom, wo bleibst du? Du trödelst schon wieder! Hast du deinen Schlafsack? Und deine Zahnbürste? Tom, vergiss nicht die Zahnbürste! So antworte doch, Tom!“
„Ja, ha-hab ich“, antwortet Tom leicht genervt. Er hat keine Lust sich zu beeilen. Wozu soll das gut sein: eine Nacht in der Schule zu schlafen, gemeinsam mit seinen Klassenkameraden und Frau Finke, seiner Lehrerin? Wer lässt sich überhaupt so einen Unsinn einfallen — eine Lesenacht? So ein Quatsch! Und ob eine Autorin oder wer auch immer kommt und dort vorliest, ist ihm auch egal. Tom verspürt leichte Bauchschmerzen, wenn er daran denkt, dass seine Mitschüler ihn wieder hänseln werden, wenn er nicht so gut und so schnell wie die anderen sprechen und lesen kann. Sie werden ihn auslachen und rufen: „Tom, Tom, To ... Tolup kann seinen Namen nicht sagen!“
Tom geht überhaupt nicht gern zur Schule: Nicht, dass er ein schlechter Schüler ist, nein, das nicht. Tom kann gut rechnen und er kennt das Alphabet. Er macht fast keine Fehler beim Schreiben. Nur lesen und sprechen, das fällt Tom schwer. Tom stottert und seine Mutter sagt: „Das gibt sich mit der Zeit, es gibt schlimmeres.“
Sie hat gut reden, sie muss auch nicht jeden Tag in die Schule zu dem gemeinen Georg und seiner Bande und zu der frechen Franzi. Wenn Franzi ihn ansieht, bekommt er keinen Ton heraus. Meist lachen die anderen und Frau Finke sagt dann immer: „Na ja Tom, übe mal schön zu Hause, beim nächsten Mal wird es besser.“ Zu Hause mit Mama und Papa, ja, da kann Tom den Text lesen, es dauert zwar, aber Mama und Papa lachen ja auch nicht.
„Tom, komm, wir müssen los!“, ruft Mama und hält schon seine Jacke in der einen Hand und in der anderen das Lunchpaket. Den Autoschlüssel hat sie zwischen den Zähnen.
„Typisch“, denkt Tom, „Mama kann sogar noch Anweisungen aussprechen, wenn sie den Mund voll hat.“ „Ob sie mich vielleicht adoptiert haben?“, fragt er sich und grübelt, warum er blonde Locken und grüne Augen hat und Mama schwarze Augen und schwarze Haare.
„Warum siehst du mich so an, Tom? Hast du deinen Schlafanzug?“
Eh Tom antworten kann, wickelt sie ihm schon den Schal um den Hals und steckt mit einer geradezu irren Geschwindigkeit seinen Arm in den linken Jackenärmel.
„Ob alle Mütter ihre Kinder in so einer Geschwindigkeit anziehen und mit gut gemeinten Ratschlägen versorgen?“, überlegt Tom.
Doch er kann seinen Gedanken nicht weiter verfolgen, denn Mama schiebt ihn schon durch die Tür. Die Tür fällt ins Schloss. Zu spät. Tom wollte noch erwähnen, dass er Bauchschmerzen hat, aber Mama packt schon die Tasche und den Schlafsack in den Kofferraum.
Sie fahren los. Es ist schon dunkel draußen und Tom kneift seine Augen zusammen: Die vielen Lichter in den Häusern sehen aus wie Sternschnuppen, das Rot von der Ampel scheint wie ein Funke aus einem Feuerwerk.
„Tom, du träumst schon wieder“, sagt Mama und streichelt ihm übers Haar. „Morgen früh komme ich und hole dich ab. Du wirst sehen, es wird dir gefallen.“
Der Wagen fährt um die Ecke auf den Schulhof, die meisten Kinder stehen schon dort mit ihren Taschen, Kuscheltieren und Schlafsäcken.
„Hoffentlich gibt sie mir jetzt keinen Kuss“, schießt es Tom durch den Kopf. Nicht, dass er Mamas Küsse nicht mag, nein, Mama riecht nach Jasmin und irgendwie immer wie frisch geduscht. Aber hier vor den Klassenkameraden, das ist ja peinlich. Alle werden lachen und rufen, dass er ein Muttersöhnchen ist.
Mama holt die Sachen aus dem Kofferraum. Gerade will sie sich zu Tom herunterbeugen, da greift Tom mit einem Satz Tasche und Schlafsack und rennt los.
„Tom, dein Teddy!“, hört er sie noch rufen, aber da ist er schon im Treppenhaus. Vor ihm steht Frau Finke.
„Hallo Tom! Schön, dass du da bist. Geh schon mal nach oben, ich hole nur schnell die anderen Kinder rein!“
Tom nickt und geht langsam die Treppe nach oben in das Klassenzimmer. Im Klassenzimmer stehen heute keine Tische und Stühle, sondern Liegen. Tom zählt nach: „Zwanzig Liegen, so ein Mist, nicht eine Liege fehlt.“ Tom sucht sich die Liege am Ende des Zimmers aus und lässt seine Tasche fallen.
„Hallo Tom, hast du was dagegen, wenn ich die Liege neben dir nehme?“
Tom dreht sich um und sieht Lisa vor sich stehen. Lisa ist die Einzigste, die Tom nicht hänselt, vielleicht, weil sie selber gehänselt wird. Lisa trägt eine runde, lilafarbene Brille. Sie ist die Kleinste aus der Klasse und hat noch immer zwei Zahnlücken. Und aus diesem Grund lachen die anderen über sie.
„Ja, ge-gerne“, antwortet Tom ganz verlegen.
Da geht schon die Tür auf und die Kinder stürmen ins Zimmer. Kuscheltiere fliegen durch die Luft und es ist so laut, dass man die Stimme von Frau Finke fast nicht mehr hört: „Ruhe, Ruhe, oder ihr geht alle wieder nach Hause!“
„Alles leere Versprechungen“, findet Tom, „die lässt uns hier bestimmt nicht raus.“
„Alle Kinder packen ihre Sachen aus! Schnell, schnell, wir wollen, bevor uns die Autorin besucht und uns eine Geschichte vorliest, selber ein Stück lesen.“
„Auch das noch“, denkt Tom, als ihn auf einmal die freche Franzi anstupst: „Ah, Tom liegt neben seiner Geliebten, über was unterhaltet ihr euch denn so, ihr Turteltäubchen?“
Und der gemeine Georg ruft: „Tom, Tom Tolup ist verliebt in die lila Brillenschlange.“
Glücklicherweise schickt ihn Frau Finke zurück zu seinem Platz. Die freche Franzi tuschelt mit ihren Freundinnen. „Diese Zicken, bestimmt denken die sich wieder eine Gemeinheit aus.“
Lisa lächelt: „Mach dir nichts draus, die sind doch alle blöd.“
„Wir schlagen die Seite mit der Herbstgeschichte auf und jeder von euch liest zwei Sätze!“ „Zwei Sätze!“, Tom wird ganz heiß.
Die Kinder beginnen zu lesen und Tom kann sich gar nicht konzentrieren. In Gedanken zählt er schon die Reihen durch bis zu seiner Textstelle. Aber da ist es auch schon zu spät. „Tom, du bist an der Reihe!“, fordert ihn Frau Finke auf.
„Die Bl-Blätter fa-fallen“.
Die anderen Kinder lachen bis auf Lisa, die ihn durch die lila Brille anlächelt.
„Ruhe, Ruhe“, ruft Frau Finke, „schön, Tom, das reicht. Wer ist der Nächste?“
Tom weiß nicht, ob er erleichtert sein soll, dass er nicht weiter lesen muss oder ob er es gemein finden soll, dass er keine zwei Sätze lesen darf wie die übrigen Kinder. „Bestimmt kann sie mich nicht leiden“, überlegt Tom.
Plötzlich klopft es an der Tür. Es sind die Eltern von den Zwillingen Isa und Inga. Die Mutter der beiden hat Pizza für das Abendessen gebacken.
Schlagartig wird es wieder laut im Klassenzimmer. Frau Finke ruft: „Alle anstellen der Reihe nach! Jeder bekommt ein Stück, es ist genug für alle da!“
Die Pizza ist lecker, na ja nicht so wie die von Toms Mama, das ist ja klar, aber eigentlich schon ganz gut. Tom muss das halbe Stück von der kleinen Lisa noch essen. Sie hat ihre Portion nicht geschafft.
„Schnell, schnell, alle anstellen zum Zähneputzen!“, ruft Frau Finke, jetzt schon ein bisschen heiser.
„Was soll die Brillenschlange denn schon putzen, die hat doch keine Zähne!“, brüllt der gemeine Georg in die Klasse und alle Kinder lachen. Die kleine Lisa bekommt ganz feuchte Augen und Tom möchte sie am liebsten drücken, aber dann würden die anderen sie noch mehr ärgern.
„Wer seine Zähne geputzt hat, zieht seinen Schlafanzug an und kriecht in seinen Schlafsack!“, ordnet Frau Finke an. Diesen Satz wiederholt sie wieder und wieder. Die Mädchenklicke um die freche Franzi scheint sie nicht zu hören, denn die Mädchen streiten darüber, welche von ihnen den schönsten Schlafanzug trägt.
„Weiber!“, denkt Tom, „Die haben vielleicht Probleme.“
Neben ihm kriecht die kleine Lisa in ihren Schlafsack. Sie nimmt die lila Brille ab und hält sich an einem lila Stoffhasen fest. Dabei sieht sie auch nicht glücklich aus. „Ist ja-ja nur ei-eine Na-Nacht“, sagt Tom und Lisa lächelt ihm mit ihrem Zahnlückenlächeln zu.
Laut und bestimmt klopft es an der Tür und die Schriftstellerin, die aus ihrem Buch vorlesen soll, betritt den Raum. Frau Finke stellt sie vor: „Das ist Dörthe Delften, sie liest uns heute aus ihrem Buch über die Schutzengel vor.“
„Schutzengel? So ein Blödsinn!“, findet Tom, „Wer glaubt denn an so was.“
Die fremde Frau stellt sich vor und sucht sich einen Platz im Raum. Frau Finke bietet ihr den Stuhl am Lehrertisch an. Doch was macht diese Frau? Sie sieht sich im Zimmer um und sagt: „Wenn die beiden dort drüben nichts dagegen haben, setze ich mich zu ihnen auf die Liege.“
Tom wird ganz rot: „Hat sie mich gemeint, wirklich mich?“
Doch da kommt sie schon auf ihn zu und fragt: „Wie heißt du denn?“
Tom versucht seinen Namen zu nennen, aber so sehr er sich auch bemüht, es kommt nichts raus aus seinem Mund. Er öffnet immer und immer wieder seinen Mund und möchte die Zunge an die vorderen Zähne bringen und ein T bilden, ein einfaches T. Ihm wird heiß. Seine Hände werden feucht. Sein Herz schlägt bis zum Hals und am liebsten würde er in seinem Schlafsack verschwinden, als er hört, wie Lisa sagt: „Das ist Tom, mein Freund Tom Tolup.“
„Angenehm, Tom, rutschst du mal ein Stück für mich?“ Sie lächelt. Tom rückt ein Stück beiseite und sieht in die neiderfüllten Augen seiner Klassenkameraden.
Dörthe Delften liest aus ihrem Buch vor. Es ist eine hübsche Geschichte über einen Jungen und seinen Schutzengel. Wie sie sich kennen lernen und wie der Schutzengel auf den Jungen aufpasst. Tom gefällt die Geschichte, aber er glaubt, so etwas gibt es im wahren Leben gar nicht. Ja, im Film, da vielleicht. Vielleicht auch nur da.
Frau Delften beendet ihre Geschichte, sie wünscht allen Kindern viel Spaß beim Lesen. Dann dreht sie sich um, sie lächelt wieder:
„Und dir, Tom, wünsche ich einen schönen Traum, schlaf gut heute Nacht.“ Dabei streichelt sie Tom über die Stirn, wie das seine Mama immer macht.
Tom wird auf einmal ganz, ganz müde. Er sieht die Schriftstellerin an und kann ihr Gesicht gar nicht mehr erkennen. Alles verschwindet wie in dichten Nebelschwaden. Wie aus der Ferne hört er das Lachen und Schreien seiner Mitschüler und die strengen Rufe von Frau Finke. Irgendwann hört er gar nichts mehr. Er fühlt sich leicht und warm und es ist ihm, als ob etwas an seiner Nase kitzelt. Er streicht im Schlaf mit seiner Hand über die Nase, aber das Kitzeln hört nicht auf. Es wird immer heftiger und auf einmal hört er ein leises Kichern. Tom öffnet seine Augen.
„Was träume ich da nur?“, fragt er sich.
Tom schließt seine Augen wieder, darauf hin kitzelt es ihm wieder an der Nase, dass er niesen muss. Dabei öffnet er die Augen. Mit seinen Händen reibt er sich die Lieder, um dieses Traumbild verschwinden zu lassen. Tom reibt kräftig an den Augen, nimmt die Hände beiseite, öffnet die Augen und sieht abermals dasselbe Traumbild:
Auf Toms Liege sitzt ein kleiner, dicker Junge mit einer modernen Gelhaarfrisur. Er hält eine Feder in der Hand und kitzelt Tom die Nase. Dabei kichert er herzhaft.
„Fin-findest du das lu-lustig?“, fragt Tom wütend.
„Ja und wie! Ich finde es wahnsinnig lustig, dich zu kitzeln. Ich möchte am liebsten gar nicht mehr aufhören.“
„Wer ... Wer bist du?“
„Gestatten: Ich heiße Fredi, Fredi Flügelbruch. Flügelbruch, weil ich einen kaputten und geschienten Flügel habe und ich bin, wenn ich meine Schutzengelprüfung bestehe, bald dein Schutzengel. Aber da ich ziemlich schlecht in der Schule bin, brauche ich deine Hilfe, damit ich dein Schutzengel werden kann. Ich stehe nämlich zur Zeit auf Engel-mangelhaft und ich benötige ein Engel-engelhaft, um die Prüfung zu bestehen. Am schlechtesten bin ich im Fahrradfahren, ich kenne einfach keine Regeln“, erklärt der kleine dicke Junge und auf einmal kommen hinter seinem Rücken zwei weiße Flügel hervor. Der eine schön gerade und voll mit weißen Federn, mit dem er vermutlich die Nase von Tom gekitzelt hat. Der zweite Flügel ist in eine rote Bandage gewickelt. Er sieht ganz krumm und überhaupt nicht so majestätisch wie der andere Flügel aus.
Tom kann es gar nicht fassen:
„Ob die Pizza vielleicht nicht gut war“, grübelt er. Vorsichtig tastet er nach dem geschienten Flügel:
„Wie is-ist das pa-passiert?“
„Na, beim Fahrradfahren! Ich kann das nicht, deswegen ja auch das Engelmangelhaft. Man, Tom, brauchst du immer so lange? Und bevor du weiter nachdenkst, die Pizza war in Ordnung!“
Tom bekommt einen Schreck.
„Kann er meine Gedanken lesen?“, fragt er sich.
„Ja, kann ich, das lernt man schon im ersten Engelschuljahr. Dafür habe ich ein Engel-engelhaft bekommen. Aber jetzt steh endlich auf, Tom! Wir haben es eilig! Morgen ist meine Fahrradprüfung! Du musst mit mir kommen!“
„Wo-wohin?“
„Na, zur Schutzengelschule! Wenn wir uns beeilen, kommen wir noch pünktlich zur ersten Stunde.“
Der kleine, dicke Fredi holt aus seinen vollen Hosentaschen ein rotes Seil hervor. Das eine Ende befestigt er an Toms Körper, das andere Ende legt er sich um seinen gesunden Flügel. Dann steht der kleine dicke Fredi auf und stellt sich auf die Zehenspitzen. Mit seinem gesunden Flügel schlägt er drei, vier, nein fünfmal ganz kräftig, geht dabei in die Hocke und springt in die Luft. Tom wird hin und her gewirbelt. Er stößt mit seinen Füßen gegen Lisas Liege. Lisa seufzt leicht. Fredi schlägt wie wild mit seinem gesunden Flügel, aber es funktioniert nicht, beide landen wieder auf Toms Liege.
„Viel-vielleicht, wen-wenn ich auch hoch-hoch springe?“, versucht Tom den dicken Fredi zu beruhigen.
„Ja, versuchen wir es noch einmal“, schlägt Fredi Flügelbruch vor.
Fredi und Tom stellen sich auf ihre Zehenspitzen, beide gehen mehrmals in die Hocke, um dann immer und immer wieder hoch zu springen. Dabei wedelt Fredi mit seinem gesunden Flügel. Diese Übung wiederholen sie einige Male. Ungefähr beim achten Mal haben die Jungen so viel Schwung, dass sie sich in die Luft erheben. Sie nehmen eine leichte Schieflage ein. Das liegt daran, dass Fredi nur einen funktionierenden Flügel hat. Mit seinem Fuß stößt Fredi das angelehnte Fenster auf und los! Es geht in den kalten, dunkelblauen Nachthimmel!
Tom versucht sich so gut wie möglich an dem dicken Körper des kleinen Fredi fest zu halten. Die permanente Schieflage ist sehr gefährlich. Sie streifen mit ihren Füßen die Spitzen der Tannen des nahe gelegenen Wäldchens. Schließlich gibt Fredi zu, dass er unter Flugangst leidet und im Fach Fliegen für Schutzengel auch ein Engel-mangelhaft hat. Tom fragt sich, ob es überhaupt ein Fach gibt, in dem Fredi kein „mangelhaft“ hat.
„Ja, in Gedankenlesen“, sagt Fredi. „Hab ich dir doch gesagt, da habe ich ein Engel-engelhaft.“
Die beiden steigen höher und höher und fliegen durch die Sterne. Auf einmal fliegt Fredi auf wundersame Weise gerade durch den Himmel. Die Dunkelheit schwindet. Ein rotes warmes Licht streift die Jungen und Fredis Federn am Flügel werden weich und bauschig. Vor ihnen taucht so etwas wie eine weiße, dicke Wolke auf.
„Achtung, Achtung! Alles beiseite! Der dicke Fredi Flügelbruch kommt!“, ruft ein kleines rothaariges sommersprossiges schielendes Mädchen, die auch Flügel hat, die sich in der Sonne hin und her bewegen.
Fredi streckt seine Füße: „Tom, wir müssen beide mit den Fersen bremsen, die Landebahn ist leider nicht länger, sie misst nur eine Schutzengelwolke lang.“
Tom fürchtet, dass er sich die Fersen aufscheuern wird. Aber der Kontakt mit der Wolkenoberfläche fühlt sich angenehm weich an. Beide fallen in den dicken, weißen Wolkenboden. Der dicke Fredi lacht:
„Na, Tom? War das eine Landung? Das war doch mindestens ein Engel-engelhaft, oder?“
„Na, los Fredi, beeile dich, wir müssen los! Fräulein Wölkchen hat schon zweimal die Engelsglocke geläutet und wenn wir beim dritten Mal nicht da sind, dann gibt es ein Donnerwetter!“, erklärt das Mädchen mit den Sommersprossen und den grünen Augen, die sich irgendwo in der Unendlichkeit des Wolkenhimmels zwischen hier und dort verlieren.
„Das ist meine Banknachbarin Nina Niemand. Niemand, weil sie niemanden ansieht, sondern immer nur an dir vorbeischaut. Aber sonst ist sie ganz in Ordnung. Ich kann immer bei ihr abschreiben, das merkt sie eh nicht.“
„Ha-Hallo, Ni-Nina, warum ha-hast du kei-keine Brille?“
„Hallo Tom, die habe ich verloren in der Flugstunde, aber so schlimm ist es auch wieder nicht, denn meine Landungen sind trotz meiner schielenden Augen genauer als die vom dicken Fredi. Ich steuere die Landungswolke so an, als ob ich vorbeifliege. Das funktioniert prächtig. Schließlich habe ich im Fach Fliegen ein Engel-engelhaft. Aber nun komm, Tom, du musst auch zur Schule und Fräulein Wölkchen wartet nicht gern.“
„Ich muss auch zur Schule?“, überlegt Tom,
„Warum das denn?“
„Damit du besser sprechen und lesen lernst. Und ja, Tom, ich kann auch deine Gedanken lesen und damit Schluss jetzt, wir sind spät dran!“
Tom wird ganz rot im Gesicht und nimmt sich vor, nur noch positive Sachen über die anderen zu denken.
„Das wird ganz schön anstrengend, wenn ich ab jetzt auch noch auf meine Gedanken aufpassen muss“, überlegt er.
Fredi und Nina nehmen Tom in ihre Mitte, gemeinsam hüpfen sie von einer kleinen Schäfchenwolke zur nächsten, bis sie an einer riesigen weißen Wolke angekommen sind.
„Wie Zuckerwatte“, staunt Tom. Alles um ihn herum füllt sich weich und leicht an. Nebelschwaden, die vor ihnen stehen, lösen sich in nichts auf. Tom verliert jedes Gefühl für Raum und Zeit. Alles ist in ein warmes gelbes Licht gehüllt, ein Glockenton so zart und schwingend, wie Tom es noch nie gehört hat, ertönt.
„Willkommen in der Schule für zukünftige Schutzengel, Tom Tolup“, begrüßt ihn eine fremde Frau. „Mein Name ist Wenke Wölkchen und ich bin deine Lehrerin. Gemeinsam mit den anderen Kindern werden wir heute für eure Prüfungen lernen.“
Fräulein Wölkchen nimmt Tom an die Hand. Sie hat viele weiße kleine Schillerlöckchen und ihre Augen sind so blau wie der Himmel. Sie trägt ein himmelblaues Kleid und sieht irgendwie aus wie ein Sahnebasier.
„A-aber ich will doch ga-gar kein Engel wer-werden!“
„Nicht? Na so was! Die Kinder in meiner Klasse wollen doch alle Schutzengel werden! Schau sie dir an, Tom, alle haben ein kleines Problem. Keiner von ihnen ist so, wie die Gesellschaft es erwartet. Aber für die Ausbildung zum Schutzengel sind sie gerade zu perfekt, denn sie helfen Kindern wie dir Tom mit dem Alltag fertig zu werden. Sie passen auf dich auf und das machen sie gerade zu Engel-engelhaft.“
Wenke Wölkchen streicht Tom übers Haar:
„Hab keine Angst Tom, du bist nur unser Gast. Wir haben uns gedacht, dass es gut für Fredi und für dich ist, wenn ihr euch beide kennen lernt. Eigenen Schutzengel zu kennen, Tom, ist gar nicht so schlecht. Ihr werdet euch helfen und ihr werdet sehen: lesen oder Rad fahren ist gar nicht so schwer, wenn du einen Freund hast, der zu dir steht.
Doch nun werde ich dir den Rest der Klasse vorstellen. Nina Niemand kennst du ja schon, sie schielt etwas. Na ja, in letzter Zeit etwas mehr: Sie hat ihre Brille verloren.
Daneben sitzt Fredi Flügelbruch, dein zukünftiger Schutzengel. Leider hat Fredi einen gebrochenen Flügel. Wenn er aber seine Diät einhält, dann kann er auch besser das Gleichgewicht beim Fliegen und Radfahren halten.
Hier links haben wir den süßen Sigi Küsschen. Sigi hat das gleiche Problem wie du, Tom. Er stottert. Aber von Tag zu Tag geht es bei ihm besser mit dem Lesen.
Und dort drüben rechts sitzt Karlotta Karotte. Karlotta hat gerade einen Zahn verloren, als sie auf eine Karotte gebissen hat. Sie liebt Karotten über alles. Aber das ist nicht ihr Problem. Nein. Karlotta kommt eigentlich aus Spanien und muss erst noch unsere Sprache lernen. Das fällt ihr nicht leicht. Doch mit der Zeit wird es immer Engel-engelhafter. So ... und hier ist dein Platz, Tom, gleich neben Sigi. Setz dich, Tom!“
Tom setzt sich zögern auf einen Wolkenbausch wie in ein Nichts (so fühlt es sich an). Doch es ist weich und bequem.
„Zuerst möchte ich wissen, ob ihr auch eure Lektionen gelernt habt. Also Fredi, was macht einen guten Schutzengel aus?“
Fredi steht auf: „Schutzengel sind immer und überall zur Stelle und behüten das ihm anvertraute Kind.“
„Und sie sind schnell und schlank“, ergänzt Nina mit einem Blick in den Augen, der sich wie immer im Nichts verliert. „Wenn man ein paar Pfunde mehr hat, friert man nicht so beim Fliegen“, kontert der dicke Fredi.
„Sehr engelhaft und was meinst du, Karlotta?“
„Quien es son bonito y muy bien.“
„Fein Karlotta, probiere es bitte zu übersetzen!“
„Sie sind schön und gut.“
„Na also, es geht doch, Karlotta, lass dir Zeit und überlege! Und Sigi, was kannst du uns erzählen?“
„Oje, der arme Sigi“, denkt Tom, „ihm ist bestimmt ganz heiß.“
Doch was passiert auf einmal? Alle sind ganz still, nichts ist zu hören: kein Räuspern, Knirschen oder Klappern einfach himmlische Stille. Sigi öffnet seinen Mund und beginnt ganz leise, fast flüsternd zu sprechen:
„Schutzengel achten darauf, dass alles zur engelhaften Zufriedenheit im Leben der uns anvertrauten Kinder verläuft.“
„Pha, was für ein Satz!“, Tom ist begeistert, „So schwere Wörter wie „Zufriedenheit“ und „anvertraut“ und nicht einmal ist Sigi ins Stottern gekommen.“ Mit neiderfüllten, traurigen Augen sieht er zu Sigi herüber.
„Danke Sigi, das hast du sehr engelhaft erklärt. Und du, Tom, kannst das auch. Du musst dir nur Zeit beim Sprechen lassen und versuche deine Stimme so leise wie nur irgend möglich klingen zu lassen. Das ist ganz wichtig. Wenn du das Gefühl hast, dich selber nicht mehr zu hören, dann ist es laut genug. Versuche gleichmäßig und ruhig zu atmen, schnappe nicht nach Luft wie ein Karpfen. Das alles wirst du auch noch lernen. Da bin ich mir ganz sicher“, strahlt Fräulein Wölkchen und lächelt mit ihrem Sahnebasiergesicht.
„Und nun, Kinder, wollen wir die Verkehrsregeln für die Fahrradprüfung durchsprechen.“
Fräulein Wölkchen schiebt eine weiße, dicke Wolke beiseite und zum Vorschein kommt eine Tafel mit den Farben der Ampel und den wichtigsten Verkehrszeichen.
„Karlotta, erkläre bitte Fredi und den Anderen die Symbole!“, fordert Fräulein Wölkchen das Mädchen mit der Zahnlücke und dem fremden Akzent in der Stimme auf.
Karlotta hat wunderschöne lange dunkle Haare. Sie trägt eine gelbe Schleife in ihrem Haar, ihre Augen sind so dunkel wie Bitterschokolade und Tom überlegt, ob er schon mal so ein hübsches Mädchen gesehen hat. Die Zahnlücke, na ja, irgendwann wird ein neuer Zahn nachkommen. Bei der kleinen Lisa ist auch schon ein kleines Stück vom neuen Zahn zu sehen.
Karlotta sieht kurz zu Fredi herüber, aber dann sieht sie mit ihren Bitterschokoladenaugen nur noch Tom an. Tom wird ganz heiß und das, obwohl er gar nicht sprechen muss. Und irgendwie schlägt sein Herz ein kleines bisschen schneller.
„Ampel, hat dres colores/Farben, rot amarillo/gelb y verde/grün. Rot muss du stehen, amarillo muss du nicht mehr so lange stehen y verde muss du gehen oder fahren. Es ist nicht schwer, Fredi, und überall auf der Welt gleich, ist muy bien“, erklärt Karlotta.
„Hier, Fredi, habe ich zwei Verkehrsschilder: ein dreieckiges mit rotem Rahmen und weißer Fläche und ein rundes rotes mit der Aufschrift „Stop“. Na, Fredi, was meinst du, das ist doch gar nicht schwer!“, fordert Fräulein Wölkchen Fredi auf.
Fredi schnappt nach Luft und schaut Tom hilfesuchend an. Tom flüstert Fredi zu:
„Stop“ heißt stehen bleiben und das Dreieck heißt Nebenstraße und das Schild dort drüben mit der gelben Farbe ist die Hauptstraße, Fredi.“
Auf einmal stehen alle Kinder auf und applaudieren. Fräulein Wölkchen kommt auf Tom zu und drückt ihm einen Sahnebasierkuss auf die Stirn:
„Toll, Tom, du hast ganz leise gesprochen, ohne zu stottern. Hast du es überhaupt nicht bemerkt? Vorsagen ist bei uns zwar nicht erlaubt, aber in diesem speziellen Fall ist es einfach ein Engel-engelhaft, Tom.“
Tom kann es gar nicht fassen. Doch es ist wahr! Er hat, ohne ein einziges Mal zu stottern, Fredi die Verkehrsregeln erklärt. Verstohlen schaut er zu Karlotta rüber, die ihm mit ihrem Zahnlückenlächeln zulächelt. Irgendwie fühlt er sich auf einmal leicht, warm und unheimlich gut.
„Fredi, hättest du die Zeichen auch so gut erklären können?“
„Aber wie! Richtig zur vollsten engelhaften Zufriedenheit, Fräulein Wölkchen!“
Fräulein Wölkchen seufzt und schüttelt den Kopf.
„Na gut, Kinder, kommen wir zur praktischen Übung.“
Unter einer weiteren Wolkendecke holt Fräulein Wölkchen ein rotes Mountainbike hervor.
„Kommt, Kinder, wir fahren die Wolkenallee hinunter bis zum 88. Sonnenstrahl, dann überqueren wir die Wolkenkreuzung und an der Blumenkohlwolke fahren wir wieder zurück. Einer nach dem anderen. Anfangen wird Sigi Küsschen, er ist mit Abstand der beste Radfahrer unter euch. Sigi, zeige den Kindern, wie es geht!“
Sigi, der riesige, abstehende Ohren hat, strahlt übers ganze Gesicht so, dass selbst seine Ohren rosa leuchten. Mit dem rechten Fuß steigt Sigi aufs Pedal, schlägt zwei mal mit seinen Engelsflügeln und ist auch schon weg.
„Ist der schnell“, staunt Tom und fragt sich, ob er es wohl auch schafft, über den Wolkenboden so dahin zu flitzen. Kaum hat er seinen Gedanken zu Ende gedacht, ist der süße Sigi Küsschen auch schon wieder zurück. Er tritt so stark den Rücktritt, dass von der Wolkenallee kleine, weiße Wolkenbäusche aufgewirbelt werden.
„Sehr gut, Sigi, und nun kommst du an die Reihe, Tom.“
„ I-Ich?“, fragt Tom ganz überrascht.
„Tom, ganz langsam und leise sprechen und vor allem ruhig atmen! Du kannst den Weg nicht verfehlen: Bis zum 88. Sonnenstrahl und an der Blumenkohlwolkenkreuzung fährst du wieder zurück.“
„Alles klar, Fräulein Wölkchen“, sagt Tom, ohne sich auch nur einmal zu versprechen. Tom setzt sich aufs Rad und fährt los. Der Wolkenbodenbelag fährt sich besser, als er vermutet hat. An der Strecke sind mehrere Ampeln und Verkehrszeichen aufgebaut, die Tom beachten muss. Aber da er ein guter Radfahrer ist, bereitet ihm diese Aufgabe keine Schwierigkeiten.
Plötzlich kitzelt Tom die Nase. Was ist das? Es hört überhaupt nicht auf zu kribbeln. Tom spürt einen langen leuchtenden warmen Strahl im Gesicht. Er hält an und reibt sich die Nase und die Augen und liest am Ende des leuchtenden Strahls eine „88“.
„Das ist ja irre! Die Sonnenstrahlen sind nummeriert“, stellt Tom fest.
Er reibt sich noch einmal die Augen und sieht links einen überdimensional großen Blumenkohl.
„Das muss die Blumenkohlwolke sein“, überlegt er kurz, als vor ihm auch schon eine Kreuzung mit Wegweiser auftaucht. Nach rechts geht es zurück zur Schutzengelschule. Tom hält seinen rechten Arm heraus und überprüft noch einmal die Verkehrslage. Doch irgendwie scheint er der Einzigste Verkehrsteilnehmer zu sein. Er biegt ab. Wohlbehalten kommt Tom bei Fräulein Wölkchen und den Engelchen wieder an. Karlotta schenkt ihm eine Karotte und Tom findet, dass er noch nie so eine köstliche Karotte gegessen hat.
Nach der kurzen Wolkenfrühstückspause ist Fredi an der Reihe.
„Nur Mut, Kumpel, du hast es ja nur mit dem Flügel. Farbenblind bist du doch nicht. Also halte immer bei Rot, dann kann doch nichts schief gehen, ich drücke dir die Daumen“, flüstert Tom seinem Freund zu.
Der kleine, dicke Fredi nimmt mehrere Anläufe, um auf das Rad zu steigen. Leider fällt er immer wieder herunter und Tom findet, dass Nina Niemand Recht hat: Fredi ist wirklich etwas zu dick für sein Alter. Schließlich schafft es Fredi mit Unterstützung von Fräulein Wölkchen aufs Rad zu steigen und strampelt schnaufend wie eine Dampfmaschine los. Als Fredi nach einer halben Stunde immer noch nicht zurück ist, beschließt Fräulein Wölkchen, dass alle losgehen, um Fredi Flügelbruch zu suchen.
Tom denkt insgeheim:
„Das kann ja heiter werden ein Schutzengel, der auch noch unzuverlässig ist.“
Die Kinder und Fräulein Wölkchen gehen die lange Wolkenallee entlang. Schließlich finden sie Fredi unter dem Sonnenstrahl Nummer 88. Fredi Flügelbruch schläft tief und fest und Nummer 88 wärmt und streichelt Fredi.
„Nummer 88, so geht das aber nicht, du hältst die zukünftigen Schutzengel von ihren Aufgaben ab. Ich fürchte, ich muss mich über dich beim obersten Sonnenstrahlenrat beschweren“, schimpft Fräulein Wölkchen und ihre Wölkchenfrisur plustert sich dabei zu einer Sturmwolke auf. Nummer 88 zieht sich darauf hin beleidigt zurück und strahlt nicht mehr. Als Fredi bemerkt, dass er nicht mehr zärtlich und warm gestreichelt wird, öffnet er die Augen.
„Hey Tom, ich habe alles so gemacht, wie du es gesagt hast. Aber auf einmal bin ich so verdammt müde geworden und Nummer 88 hat mich so sanft zugedeckt, dass ich eingeschlafen bin. Ich wollte doch gleich zurückkommen, Engelehrenwort, wirklich ganz engelehrlich.“ Fredi schaut so, dass ihm überhaupt Niemand böse sein kann.
„Na gut, Kinder, so schlecht war Fredi heute auch wieder nicht, immerhin so weit ist er noch nie gekommen. Wenn er sich anstrengt, schafft er ja vielleicht morgen die Prüfung. Und Nummer 88, du wirst dich morgen zurückhalten!“
Nummer 88 leuchtet zweimal kräftig auf, bevor er sich wieder zurückzieht.
Fräulein Wölkchen holt aus ihrem himmelblauen Kleid eine Sternenkette hervor, an deren Ende eine Uhr befestigt ist. Sie schaut auf die Uhr und ruft:
„Mittagspause, ruht euch alle aus! Nach der Pause werden wir mit der Flugübungsstunde beginnen.“
Wenke Wölkchen steckt die lange Sternenuhrenkette wieder in ihre Kleidertasche. Sie dreht sich in ihrem himmelblauen Kleid ganz schnell, so dass einem beim Hinsehen schwindlig wird. Ihre Kleiderfalten glitzern wie Sternenstaub und unter ihren Füßen werden kleine Wattewolkenflocken aufgewirbelt. Als sie endlich stehen bleibt, hält sie in ihren Händen Wölkchenzuckerwatte für alle Kinder. Lächelnd verteilt sie die Zuckerwatte.
„Mm, lecker, wenn es doch zu Hause auch öfter Zuckerwatte zum Essen geben würde!“
„Esst ihr oft Zuckerwatte?“, fragt Tom ganz leise.
Nina, die neben ihm sitzt, sieht lächelnd an ihm vorbei:
„Ja, jeden Tag, und immer schmeckt sie anders. Wolkenzuckerwatte ist das leckerste Essen, das ich kenne.“
Und mit einem großen Biss schiebt sich Nina das letzte Stück Wolkenzuckerwatte in ihren Mund.
Nach dem guten Essen ist Tom ein wenig müde, doch Fräulein Wölkchen ruft schon wieder zum Unterricht.
„Fredi, erkläre uns bitte theoretisch den Abflug, den Flug und die Landung eines Schutzengels!“
Fredi streicht sich durchs Haar und beginnt zu erklären:
„Wir gehen in die Knie und holen Schwung, damit wir abheben können. Beim Flug ist es wichtig auf den Gleichklang der Flügelschläge zu achten und für die Landung müssen wir die Geschwindigkeit drosseln, die Füße strecken und vorsichtig landen.“
„Das ist richtig, Fredi. Und damit du das auch praktisch hinbekommst, habe ich mir folgendes überlegt. Hier habe ich dir einen Ersatzflügel gebastelt. Das Ganze ist an einem Gürtel befestigt und am Ende des Gürtels befindet sich eine Schnur. Du musst nur immer gleichmäßig an der Schnur ziehen, damit sich der Ersatzflügel im Gleichklang mit deinem gesunden Flügel bewegt.“
Fredi schaut ganz unsicher, ob das funktioniert.
„Das ist ir-irre!“, ruft Tom.
„Tom, du sollst leiser und langsamer sprechen“, ermahnt ihn Fräulein Wölkchen und Tom probiert es noch mal ganz leise:
„Das funktioniert bestimmt, Fredi, die Idee ist toll.“
Fräulein Wölkchen nickt zufrieden.
„Na gut, ich werde es probieren“, sagt Fredi und streicht sich dabei durch die Gelhaarfrisur.
Fräulein Wölkchen legt Fredi vorsichtig den Gürtel um.
„Drückt es Fredi, behindert dich der Gürtel?“
„Nein, überhaupt nicht.“
Wenke Wölkchen hebt vorsichtig den bandagierten Flügel von Fredi und schiebt den Gürtel unter den Flügel.
„So, Fredi, und hier ist die rote Schnur. Wir machen jetzt ein paar Trockenübungen. Immer, wenn du deinen gesunden Flügel ausbreitest, ziehst du an der Schnur. Durch diese Bewegung wird auch der künstliche Flügel sich bewegen. Alles klar? Gut, dann gebe ich jetzt das Kommando. Linken gesunden Flügel bitte engelhaft anheben und an der Kordel ziehen! Schwungvolle, engelhafte Bewegungen bitte und ... eins und zwei und eins und zwei!“
Fredi kommt ganz durcheinander, er zieht die Kordel und schlägt den Flügel so tollpatschig, dass es alles andere als engelhaft ist.
„Nein, nein, Fredi, so geht das nicht, wir fangen noch mal von vorne an. Ganz ruhig auf mein Kommando. Und eins und zwei und eins und zwei ...“, Fräulein Wölkchen schlägt dazu den Takt auf einem Tamburin und auf einmal macht Fredi geradezu elegante engelhafte Bewegungen.
„Schön, sehr schön Fredi“, lobt Wenke Wölkchen. Die Kinder rufen im Chor:
„Jetzt kannst du es, Fredi!“
Fredi strahlt übers ganze Gesicht und die Gelhaarfrisur steht besonders gerade.
„Gut, nun wollen wir die praktische Anwendung üben. Wer ist der beste Flieger unter euch? Ach, ich sehe schon. Sigi, komm du doch bitte und zeige uns, wie man engelhaft fliegt!“
„Sigi scheint ein guter Schüler zu sein, der kann nicht nur gut Rad fahren, sondern auch gut fliegen“, überlegt Tom.
„Sigi, stelle dich bitte hier auf!“
Mit ihrem Schuh zieht Fräulein Wölkchen eine Linie auf den Wolkenboden.
„Siehst du die Regenwolke dort hinten? Bis zu dieser Wolke wirst du fliegen, sie einmal umrunden und dann wieder zurückkommen und hier landen. Alles verstanden, Sigi?“
Sigi nickt mit dem Kopf.
„Na dann mal los! Und guten Flug!“, ruft Fräulein Wölkchen.
Sigi stellt sich auf die Zehenspitzen, geht einmal tief in die Knie und hebt mit einem majestätischen Flügelschlag ab in die Höhe. Dabei sind seine abstehenden Ohren besonders rot und so, wie Sigi die Flügel im Gleichklang schwingt, so bewegen sich auch seine Ohren.
„Phantastisch, perfekto“, staunt Karlotta und die anderen stimmen ihr zu.
Mit einer geradezu raketenhaften Geschwindigkeit umfliegt Sigi die Regenwolke und nimmt schon wieder Kurs auf die Landung. Noch ein, zwei Flügel- und Ohrenschläge und Sigi landet weich im Wolkenboden.
„Engelhaft Sigi, einfach engelhaft!“, schwärmt Fräulein Wölkchen.
„Und nun du, Nina!“, sagt Fräulein Wölkchen aufmunternd.
Nina nimmt an der markierten Linie Aufstellung. Auch sie hebt sich mit einem gekonnten Schwung in die Luft. Ihr Flug scheint nicht ganz so geradlinig wie der von Sigi. Sie schwankt etwas, was daran liegen mag, dass sie die Regenwolke vielleicht nicht so genau erkennen kann. Doch was ist das? Statt die Regenwolke zu umfliegen, fliegt Nina genau in die Wolke hinein!
„Oh, nein!“, ruft Fräulein Wölkchen. „Nina Niemand, komm sofort zurück!“
Zu spät! Auf einmal donnert es ganz laut und furchterregende lila leuchtende Blitze erhellen den Wolkenhimmel. Zwischen den Donnerschlägen ist ein klägliches Hilferufen zu hören. Es ist so, als ob Nina aus dem Gewitter nicht mehr zurückfindet.
Alle stehen einen Moment wie versteinert. Dieser Moment scheint eine Ewigkeit zu dauern, als plötzlich der dicke Fredi an der markierten Linie Aufstellung nimmt. Mit geschlossenen Augen, dreimal hintereinander in die Knie gehend, schwingt er sich beim dritten Versuch in die Höhe. Fredi zieht unentwegt an der roten Kordel und da er sich nicht im Gleichklang mit seinem Flügel bewegt, trudelt er im Sturzflug zehn Flügelschläge nach unten. Ein entsetztes Raunen geht durch die Engelschar, als Fredi sich endlich fängt. Mit äußerst kräftigen Schlägen fliegt er in Richtung Regenwolke und ruft furchtlos:
„Nina, ich komme, ich Fredi, dein Retter.“Fredi hält weiter Kurs auf die Regenwolke und fliegt durch die lila leuchtenden Blitze hindurch. Doch was ist das? Auf einmal von rechts kommt ein Hagelsturmwind daher.
„Au weja, das ist Hagen Hardi Hagel, einer der Enkel aus der Sturmwindfamilie, ein richtiger Fiesling“, erklärt Sigi Küsschen ganz ohne zu stottern.
„Du musst wissen, Tom, Fredi hat ihm letztens, als wir keine Lust auf Kälte und Hagelkörner hatten, seinen Reservekanister mit Hagelkörnern weggenommen und hat ihn von Nummer 88 auftauen lassen. Das fand Hagen Hardi Hagel gar nicht gut und seitdem versucht er Fredi ständig eins auszuwischen.“
„A-aber da muss man doch helfen, Fräulein Wölkchen!“, ruft Tom leise, aber bestimmt.
„Du hast Recht, Tom, das geht zu weit.“
Doch Hagen Hardi Hagel lässt seine fiesen Hagelgranaten schon auf den armen Fredi nieder: Der gesunde Flügel ist ganz nass und schmerzt, die Gelhaarfrisur klebt links und rechts pomadenartig am Kopf des armen Fredi.
Fräulein Wölkchen greift unterdessen in ihre Wolkenfrisur und holt einen Schneeball nach dem anderen aus ihrer Wolkenhaarpracht und schießt in Richtung Hagen Hardi Hagel.
„Ha, Treffer! Und noch einer! Da hast dus! Mach, dass du davon kommst! Ich werde ein ernstes Wort mit deinem Großvater Winfrid Windig sprechen müssen.“
Noch einmal zieht Hagen Hardi Hagel an den Engelchen vorbei und lässt seine letzten Hagelreserven auf sie nieder, bevor er sich verzieht.
Aber wo ist Fredi? Fredi ist überhaupt nicht mehr zu sehen. Und die Regenwolke? Wo ist die Regenwolke? Sie ist auf einmal auch nicht mehr da!
Am Horizont leuchtet ganz zart und dann immer stärker ein Sonnenstrahl.
„Das ist ja Nummero 88“, ruft Karlotta ganz erstaunt.
Und richtig, Nummer 88 strahlt immer kräftiger und in seinem warmen Licht kommen Fredi und Nina Hand in Hand angeflogen. Noch zwei, drei Flügelschläge und die beiden landen geradezu engelhaft im Wolkenboden.
„Fredi Flügelbruch, ich bin sehr stolz auf dich. Das war geradezu ein Engel-engelhaft, was du uns gezeigt hast. Unter diesen Umständen werde ich dir heute schon die Engelfliegerurkunde ausstellen. Du hast die Flugprüfung bestanden. Alle können sich an dir ein Beispiel nehmen. Tom, du hast einen wahrhaft engelhaften und furchtlosen Schutzengel.“
Nach so viel Lob wird Fredi ganz verlegen. Alle gratulieren und Nina zupft ihm die Frisur zurecht.
„Und du, Nummer 88, ich werde mich dafür einsetzen, dass du eine Belobigung vom obersten Sonnenrat bekommst. Dein Verhalten war wirklich strahlend, ganz und gar strahlend!“, sagt Fräulein Wölkchen feierlich.
Sigi und Fredi haben heute ihre Prüfungen bestanden. Die beiden Mädchen Nina und Karlotta sind noch nicht in der Abschlussklasse, sie haben noch ein Jahr vor sich, bis auch sie sich Schutzengel nennen dürfen.
„Zur Feier des Tages werden wir ein kleines Wolkenfest feiern“, verkündet Fräulein Wölkchen. Wieder dreht sie sich im Kreis ganz, ganz schnell und ihr blaues Kleid leuchtet und goldener Staub fliegt durch die Luft. Plötzlich bleibt Wenke Wölkchen stehen. In Ihren Händen hält sie zwei Urkunden. Mit goldener Schrift steht auf ihnen geschrieben, dass Fredi und Sigi ihre Prüfungen bestanden haben.
Fräulein Wölkchen überreicht unter tosendem Applaus der anderen Engel die Urkunden. Fredi streicht sich ganz verlegen das Haar aus der Stirn. Seine Flügel plustern sich auf und sehen im Licht von Nummer 88 sehr majestätisch aus. Auch Sigi ist sehr stolz. Seine Ohren glühen so rot wie die Abendsonne.
„So, meine Lieben! Karlotta war so freundlich und hat uns ein spanisches Festessen zubereitet. Es gibt Calamares, Tintenfisch, Brot, Tomaten und Schinken und dazu Orangenlimo.“
„Hört sich gut an“, denkt Tom. Calo oder wie dieser Fisch auch heißen mag, hat er noch nie gegessen. Karlotta reicht ihm seinen Teller.
„Schade, soy triste.“
„Was hast du gerade gesagt?“
„Ich bin traurig“, sagt Karlotta mit ihrem warmen Akzent in der Stimme und ihre Bitterschokoladenaugen schauen so, dass Tom sein Herz ganz laut anfängt zu schlagen.
„Warum bist du denn traurig?“, fragt Tom und hofft, dass keiner von den anderen hört, wie sein Herz schlägt.
„Weil du wirst gehen zurück, du bist nicht Engelsschüler, sondern kleiner Junge, y me gusta Tom.“
„Me was bitte?“
„Me gusta, das heißt, ich mag dich, Tom.“
Tom spürt, wie er vor Verlegenheit ganz rot wird.
„Ich mag dich auch sehr, Karlotta, aber zu Hause warten meine Eltern und die kleine Lisa. Weißt du, Lisa ist ein bisschen so wie ich war, halt ängstlich und deshalb muss ich mich um sie kümmern oder hat sie schon einen Schutzengel?“
„Ich nicht wissen, aber es ist gut, wenn du so denkst. Mit einem Freund wie dir braucht Lisa keine Angst mehr zu haben, ist muy bien.“
„Das heißt gut, dass habe ich schon gelernt.“
Karlotta nickt und lächelt dabei. Aus ihrem linken Flügel zieht sie eine lange pflaumenweiche weiße Feder heraus und schenkt sie Tom.
„Für dich, mio amigo“, dabei gibt sie Tom einen Kuss.
Ihre Bitterschokoladenaugen sehen von Tränen erfüllt, feucht und glänzend aus. Dann steht sie auf und geht. Tom möchte noch etwas sagen, aber sein Herz schlägt so schnell und auch seine Augen füllen sich auf einmal mit Tränen, dass es ihm nicht möglich ist, ein Wort herauszubringen.
„Hey, Tom, sie ist ein Engel“, stupst ihn Fredi an.
„Ja, das ist sie wirklich“, flüstert Tom.
„Nein, Tom, ich will damit sagen: Ein Engelmädchen und ein Junge wie du können nie ein Paar werden. Du kannst von ihr träumen, mehr - mein Freund - ist nicht möglich. Du musst dir ein Mädchen von der Erde suchen! Ich wüsste da übrigens eine, die wäre interessiert ... Frag sie doch mal nach ihrer Handy-Nummer, so macht man das doch bei euch. Oder?“
Tom lächelt und verstaut sorgfältig die Feder unter seinem Hemd.
„So, Tom, die Zeit ist gekommen, sich zu verabschieden“, sagt Fräulein Wölkchen und streichelt ihm über die Haare.
„Es war schön, dich hier bei uns zu haben. Ich hoffe, wir konnten dir bei deinem Problem helfen und du kannst nun besser sprechen und lesen. Fredi hast du sehr geholfen. Von nun an ist er auf allen deinen Wegen bei dir und wird auf dich Acht geben.“
Der kleine, dicke Fredi steht neben Tom und schaut ganz verlegen auf den Wolkenboden. Dann drückt er Tom noch einmal ganz fest, danach dreht er sich um und verschwindet winkend wie die anderen Engelsschüler in einer Nebelwolke.
Tom schaut ihnen nach, bis sie sich im Nichts aufgelöst haben.
Fräulein Wölkchen zieht unter ihrem himmelblauen Wunderkleid eine Wolkenstrickleiter hervor. Mit einem kunstvollen Schwung lässt sie die Leiter fallen.
„Hier Tom, klettere vorsichtig hinab! Die Leiter wird genau in deinem Bett enden. Du brauchst also keine Angst zu haben. Ich bin sehr stolz auf dich, Tom. Dein Verhalten war sehr engelhaft.“ Noch einmal gibt sie Tom einen Kuss und lächelt mit ihrem Sahnebasiergesicht. Dann hilft sie Tom auf die Leiter. Tom klettert vorsichtig an der Wolkenstrickleiter hinab, die schaukelt ganz schön, aber Tom hat keine Angst, er ruft:
„Wiedersehen Fräulein Wölkchen, Wiedersehen, Wiedersehen, Wiedersehen ...“
„Tom, Tom Tolup, wach endlich auf, was redest du da bloß.“
Frau Finke schüttelt kräftig an Toms Schultern. Tom blinzelt ganz vorsichtig und erkennt seine Klassenkameraden, die alle um sein Bett herumstehen und lachen.
„Wo bin ich“, überlegt er, „ist das hier das Klassenzimmer oder bin ich noch auf der Wolke bei den Engeln? Oder war das alles vielleicht nur ein Traum? Ja, ein Traum ... viel zu schön, um wahr zu sein.“
Doch dann fühlt er auf einmal die Feder in seiner Hand und nun weiß er, dass es kein Traum war, sondern dass er alles wirklich erlebt hat.
„Tom, du bist ja ein richtiger Langschläfer, beeile dich, deine Mutter kommt in einer halben Stunde, um dich abzuholen. Du bist ja ganz durchgeschwitzt. Ist dir nicht gut, hast du schlecht geträumt?“, fragt Frau Finke.
„Mir geht es gut, mir geht es sehr gut. Ich habe so einen schönen Traum gehabt“, flüstert Tom und hält dabei seine Feder ganz fest in der Hand.
„Frau Finke, Frau Finke!“, ruft Lisa ganz aufgeregt, „Haben sie das gehört? Der Tom hat nicht einmal gestottert.“
„Ja, wirklich, wirklich ganz erstaunlich“, bemerkt Frau Finke und der gemeine Georg und die freche Franzi bekommen vor lauter Staunen ihren Mund nicht zu.
Tom atmet tief und gleichmäßig und sagt leise, aber sehr bestimmend:
„Na, Franzi, hat es dir die Sprache verschlagen? Das kenne ich, ich könnte dir ja sagen, wie man dieses Problem löst. Aber weißt du? Ich habe jetzt leider keine Zeit.“
Tom kriecht aus seinem Schlafsack und verstaut ganz vorsichtig seine Feder in seinem Rucksack. Dabei findet er in seiner Tasche noch einen Apfel. Er nimmt den Apfel heraus, poliert ihn an seiner Hose blank und schenkt ihn mit einem Lächeln der kleinen Lisa.
„Hier Lisa, der ist für dich! Ich finde, heute ist ein schöner Tag.“
„Danke Tom, möchtest du vielleicht ein Stück abhaben?“
„Nein, weißt du, ich bin noch satt vom Tintenfisch“, erklärt Tom gedankenverloren, während er seine Sachen zusammenpackt. Lisa schaut ihn fragend an durch ihre lila Brille. Doch bevor sie ihn danach fragen kann, was er denn gegessen hat, kommen schon die ersten Eltern, um ihre Kinder abzuholen. Toms Mutter steht auch schon in der Tür.
„Tschüß Lisa, bis morgen“, flüstert Tom.
„Ja bis morgen Tom, ich freue mich schon“, antwortet die kleine Lisa.
„Tom, wie war es, hat dir die Lesenacht gefallen? Hast du schön geschlafen? Wie war die Geschichte? Tom, hast du dir auch die Zähne geputzt?“
Tom zählt nach: Das waren jetzt vier Fragen gleichzeitig. Vier Fragen allein auf dem Weg von der Schultür bis zum Auto sind rekordverdächtig, aber noch steigerungsfähig.
„Dieser Tag kann ja noch heiter werden“, überlegt Tom.
Seine Mutter öffnet die Autotür, schiebt Tom und die Taschen ins Innere des Autos und dreht auch schon den Zündschlüssel um. Tom sieht seine Mutter an und sagt mit einem listigen Grinsen:
„Mami, reicht es, wenn ich vier mal „ja“ antworte? Oder willst du die ausführliche Version, das kann allerdings dauern.“
Toms Mutter tritt auf die Bremse, die Autos hinter ihr fangen an zu hupen. Sie dreht sich zu Tom, gibt ihm einen Kuss und sagt mit erregter Stimme:
„Tom, mein Kleiner, du hast nicht einmal gestottert. Das ist ja ein Wunder!“
„Kein Wunder, Mami, sondern hartes Training, aber nun fahr lieber los, die Autos hinter uns hupen immer noch.“
Karlottas Feder liegt nun auf Schreibtisch von Tom. Jeden Abend, bevor er zu Bett geht, öffnet er einen Spalt das Fenster. Er schaut zum Himmel, zählt die Sterne und hofft darauf, Fredi oder einen von den anderen zu sehen. Aber Abend für Abend wartet er vergeblich. Auch in seinen Träumen trifft er keinen von seinen Freunden. Das macht ihn schon ein bisschen traurig.
In der Schule läuft es dafür super. Frau Finke lässt Tom jetzt regelmäßig lesen. Die Kinder sind dann immer ganz leise, wenn Tom vorliest. Selbst der gemeine Georg und die freche Franzi lassen ihn und die kleine Lisa in Ruhe. Schule kann auch Spaß machen, das weiß Tom inzwischen.
Kurz vor den Weihnachtsferien ist Tom mit seiner Mutter unterwegs zum Einkaufen. Langsam wird es dunkel, kleine weiße Flocken fallen vom Himmel. Die Menschen laufen hektisch mit vielen Tüten bepackt durch die Straßen.
„Warum haben es alle nur so eilig?“, grübelt Tom. Selbst seine Mutter lässt sich von dieser Hektik anstecken.
Ständig fragt sie:
„Tom, haben wir schon die Kerzen besorgt? Tom, haben wir den Festbraten bestellt? Tom, brauchen wir noch Geschenkpapier?“
Toms Vater weiß genau, warum er lieber zu Hause bleibt und auf diese Art von Einkaufsbummel verzichtet. Tom übt sich in Geduld und zieht mit seiner Mutter von Geschäft zu Geschäft.
Schon mit einigen Tüten behangen stehen sie nun an der Ampelkreuzung vor dem großen Warenhaus. Die Ampel zeigt immer noch rot, doch in Gedanken und vollkommen abwesend rennt Toms Mutter mit ihren Tüten und Tom an der Hand auf die Straße. Die heranfahrenden Autos hupen und die Bremsen heulen auf. Plötzlich hat Tom das Gefühl, als ob irgendwer an seiner Jacke zieht und ihn und seine Mutter von der Fahrbahn holt. Tom schaut sich um, aber da ist niemand. Seine Mutter sieht ihn ganz fertig an:
„Oh, entschuldige, mein Liebling, geht es dir gut?“
„Alles in Ordnung, Mami. Schau, jetzt haben wir wirklich grün, wir können jetzt gehen.“
Auf der Mitte der Fahrbahn kommt ihnen eine Frau entgegen, sie lächelt Tom an. Und Tom erkennt in ihr Dörthe Delften. Ja, das ist Frau Delften, die Vorleserin. Die weißen Flocken am Himmel tanzen um Frau Delften herum und ein warmes Licht leuchtet auf sie. Dieses Licht kennt Tom genau, so ein Licht kann nur einer erzeugen, Nummer 88. Da ist er sich ganz sicher. Dörthe Delften geht an Tom vorbei. Schnell dreht sich Tom noch einmal nach ihr um. Er ruft:
„Hallo, Frau Delften, ich bins, der Tom!“
Die Frau bleibt kurz stehen und Tom sieht in das Gesicht von Wenke Wölkchen.
Tom erreicht, von seiner Mutter gezogen, die andere Straßenseite. Das warme Licht ist nicht mehr zu sehen. Frau Delften oder Fräulein Wölkchen ist verschwunden. Aber Tom ist unheimlich froh. Er hüpft in die Luft, fängt eine Schneeflocke und ruft:
„Danke, Fredi und grüße bitte alle von mir, ich denke oft an euch! Mir geht es gut. Ich habe im Lesen eine 2 bekommen. Was meinst du, Fredi, das ist doch engelhaft, oder?“
„Tom, willst du jede Schneeflocke einzeln einfangen? Und mit wem redest du da überhaupt? Komm, Tom, wir haben doch noch keine Kerzen, die müssen wir unbedingt besorgen. Findest du rote oder gelbe Kerzen schöner? Oder nehmen wir doch lieber goldene? Ach nein! Silber wäre auch nicht schlecht. Tom, was meist du? Oder vielleicht doch lieber rot. Lila ist auch ganz hübsch ...“
„Mami, lass uns doch irgendwelche Kerzen kaufen. Es ist doch ganz egal! Wichtig ist, dass sie engelhaft sind!“
„Tom, in letzter Zeit hast du dich wirklich sehr verändert, du bist wohl am Wachsen. Ja, das muss es sein. Wenn kleine Jungen wachsen, dann sind sie sehr verträumt. Ach Tom, was ich dich noch fragen wollte: Welches Papier wollen wir zum Einpacken der Geschenke nehmen? Ich meine, da gibt es viele Möglichkeiten, wir könnten ...“
„Mami!“
„Ja, Tom?“
„Ich hab dich lieb!“
„Ich dich auch, Tom! Und einkaufen gehe ich mit dir am allerliebsten!“